top of page
Die Attraktion
Thema:  Eine kurze Geschichte,
die unter Wasser spielt

„Und hier soll es sein?“, fragte Erika vorsichtig und blickte über die Reling hinab auf die Wellen, die im leichten Rhythmus zur Musik des Windes tanzten.

Michael sah nach oben zu Klaus, der am Ruder stand und noch einmal die Navigationsinstrumente kontrollierte.

Klaus bestätige mit einem ‚Daumen hoch‘, Michael wandte sich wieder Erika zu und antwortete selbstsicher: „Ja, alles klar, hier ist es! Ich hatte auch nicht gedacht, dass es in so seichten Gewässern in nur knapp 30 Metern Tiefe liegen würde.“

„Und warum hat es noch niemand vor uns entdeckt?“

„Nun ja, der Ozean ist groß. Das hier ist im Vergleich dazu praktisch wie ein Fliegenschiss auf einem Fußballfeld. Aber ich habe es nur beim Schnorcheln gesehen, von oben. Ich weiß nicht, ob es das ist, was ich denke.“

Erika klopfte Michael auf die Schulter. „Na dann lass uns das mal rausfinden.“ Sie ging zum Heck des Schiffs, kontrollierte noch einmal den Druck in ihrer Sauerstoffflasche und ließ sich von der Bordwand aus rückwärts ins Wasser fallen. Michael folgte ihr.

Erika sah sich um. Über ihr schaukelte das Schiff langsam in den Wellen, wie ein Baby in einer Wiege, während sich die Sonnenstrahlen an der Wasseroberfläche brachen und einen bizarren, aber wunderschönen Lichtertanz in den Ozean zauberten. Erika konnte ihren Blick kaum davon abwenden. Doch dann klopfte ihr Michael auf die Schulter und gab ihr ein Zeichen, hinunterzutauchen. Erika nickte kurz, drehte sich und schwamm gemeinsam mit ihrem Partner hinab in die Tiefe.

Meter für Meter ging es abwärts, während sich die Luftblasen, die sich aus Erikas und Michaels Mundstücken befreiten, mühevoll in Richtung Wasseroberfläche bewegten.

Doch dann zeichnete sich langsam das Relief einer Steinformation am flachen Meeresboden ab. Erikas Herz schlug unweigerlich schneller. Und je näher sie kam, desto deutlicher war eine Art Torbogen aus großen, grob behauenen Steinen zu erkennen.

Touchdown: Erika und Michael waren am Meeresboden angekommen. Der Torbogen ragte majestätisch aufwärts in Richtung der lichtdurchfluteten Wasseroberfläche. Und als Michael näher herankam sah er deutlich, dass ein Schriftzug in die oberen Steine hineingemeißelt worden war, deren ersten drei Buchstaben noch gut zu lesen waren: ‚ATL‘. Michael wollte hüpfen vor Freude und als Erika herankam, zeigte er mit ausgestrecktem Arm auf die Buchstaben im Stein und drehte sich dann voller Enthusiasmus um die eigene Achse. „Ich habe Atlantis gefunden. Ich habe Atlantis gefunden. Ich habe…“ Die Worte wirbelten und kreisten in seinem Kopf umher und vernebeltem ihm fast alle Sinne, bis Erika in stoppte, bei den Händen nahm und vor Freude mittanzte.

Kurz darauf tauchten die beiden durch den Torbogen hindurch und dann passierte das Erwartete, dass zuvor doch so unmöglich erschien: Vor ihnen erstreckte sich eine weite Ebene aus ringförmigen Steinformationen mit mehreren Säulen im Zentrum, die aus Monolithen zu bestehen schienen. Als Erika und Michael bei ihnen angekommen waren, folgte Erikas Blick an den Säulen entlang nach oben und ließ sie im nächsten Moment zusammenzucken. Über ihr zogen zwei etwa drei Meter lange Haifische ihre Kreise und schienen sie und Michael regelrecht zu belauern. In Panik packte sie Michael, der gerade die Struktur der Steinsäulen näher betrachtete, an der Schulter, schüttelte ihn kräftig und deutete dann mit dem Arm nach oben, wo etwa fünf Meter über ihnen die beiden Haie langsam und erhaben die Säulen umkreisten.

Aber Michael legte seine Hand sanft auf Erikas Arm und drückte ihn langsam herunter, während er sie mit einem ‚Daumen hoch‘-Zeichen beruhigte. Doch dann traf ihn ein greller Lichtblitz von der Seite, der ihn zusammenzucken ließ und auch Erika fuhr ein Schauer durch den Körper. Michael sah sich um und entdeckte eine Unterwasserkamera, die in eine Lücke zwischen zwei Mauersteinen eingeklemmt war. Er schwamm hinüber und als er näher herankam, sah er auf dem Boden ein Holzbrett, auf dem die Worte „Ihr Foto am Ausgang für 5 €“ eingebrannt waren.

 

„Hat doch super geklappt!“, sagte Heinrich, „gar nicht schlecht für einen ‚dummen‘ Haifisch, oder?“

„Stimmt!“, pflichtete ihm Karl bei, „und ja, du hattest recht: Wenn jemand schon seine Unterwasserkamera im Ozean verliert, soll man sie nutzen.“

„Guck mal: Der Typ nimmt das Schild hoch und liest es noch mal genau. Meinst du, der hat fünf Euro dabei?“

„Ich weiß nicht. Menschen haben doch immer Geld dabei, habe ich gehört. Wo hast du das Schild eigentlich her, Heinrich?“

„Im Wasser gefunden, hinten, an der Küste. Stammt wahrscheinlich aus einem dieser Freizeitparks, oder dieser elenden Ozeanarien. Und wenn man’s nicht mehr braucht schmeißt man es einfach ins Wasser, wie immer.“

„Aber sieh es doch mal so: Wir konnten es gebrauchen. Und wenn wir das Ganze hier richtig aufziehen, mit Webseite, Werbeflyern und so, dann kann ich mir endlich meine Zahnreinigung leisten. Meine Frau meckert schon die ganze Zeit, dass meine vierte Zahnreihe so verdreckt wäre.“

„Na ja, da hat sie leider recht. Aber denk dran, dass wir Jens noch beteiligen müssen.“

„Jens, den Hummer?“

„Ja. Er hat die Buchstaben in den Stein gekratzt. Leider wusste er nach ‚ATL‘ nicht mehr genau, wie man ‚Atlantis‘ schreibt. Und Thorsten bekommt auch noch etwas.“

„Stimmt, er hat geholfen die Steine anzuordnen. Aber schau mal, Heinrich, die Typen schwimmen wieder weg! Was machen wir jetzt? Die haben unsere fünf Euro!“

„Los, Karl, hinterher. Sonst können wir nie unsere Webseite machen!“

„Die flüchten, so eine Scheiße! Warum müssen Touristen immer so knauserig sein?! Hey, ihr da, STOPP, das hier ist eine echte Attraktion!“

Auch Heinrich gab Gas, doch bereits nach wenigen Augenblicken brach er die Verfolgung ab. „Lass nur Karl, vielleicht zahlen die Bar vom Boot aus und werfen ein paar Münzen ins Wasser.“

„Ja, vielleicht“, antwortete Karl resigniert, „aber sag mal, dürfen Haie eigentlich eine Webseite betreiben?“

 

Zwei Wochen später rief Michael aus seinem Büro heraus bis hinüber ins Wohnzimmer: „Erika komm mal schnell her! Das musst du dir ansehen.“

Erika trat mit gerunzelter Stirn an Michaels Schreibtisch heran und las auf dem Monitor seines Laptops: ‚Besuchen Sie das ECHTE Atlantis! Karl und Heinrich freuen sich auf Ihren Besuch.‘

„Schlimm genug, dass wir auf den Blödsinn reingefallen sind“, sagte Michael mit viel Frust in der Stimme, „und jetzt haben die auch noch eine Webseite für den Quatsch.“

„Ja, genau“, antwortete Erika, „und dann stellen die sich noch selbst als grinsende Haie dar, statt ihre wahren Gesichter zu zeigen!“

bottom of page