Spirituell
Thema: Eine kurze Geschichte über
einen geheimnisvollen Ort
„Da ist es!“
„Wo? Ich kann nichts sehen.“
„Na da hinten!“ Vera zeigte mit ausgestrecktem Arm in den Wald hinein. „Siehst du denn nicht die grauen Wände dort? Mann, du erkennst den Wald vor lauter Bäumen nicht.“
„Ach, jetzt sehe ich es!“, rief Natalie, „gleich hier vorn. Man übersieht manchmal einfach Dinge, die man weiter weg glaubt. Aber egal, gehen wir hin.“
Vera ging voran, zwischen den Bäumen hindurch, vorbei an moosüberwachsenen Steinformationen, durch das Dickicht, bis sie vor der über die Jahre hinweg verwitterten Betonruine stand. „Da sind wir. Das ist das ehemalige Waldklinikum V.“
Natalie schloss nur ein paar Sekunden später zu ihr auf. „Es ist größer, als ich dachte, ein richtiges Monstrum. Und hier drin soll es spuken?“
„So die Legende. Und der ganze Komplex hier liegt seit fast 70 Jahren still. Interessant wird’s auf jeden Fall. Lass uns reingehen!“
„Na schön.“ Dieses Mal ging Natalie voran: Durch die alte, knorrige Flügeltür hindurch, die wider Erwarten noch funktionierte, einen breiten, dunklen Korridor entlang, weiter hinein ins Innere des riesigen Gebäudes.
Vera leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe den Weg aus. Links und rechts tauchten die Risse in den Betonwänden im nebligen Lichtkegel auf, wie Spinnennetze, die das gesamte Haus durchzogen. Alte Patientenbetten, Materialwagen und Möbel standen entlang der Wände und schlummerten im zeitlosen Tiefschlaf.
„Ist schon irgendwie schaurig, oder nicht? Und dieser vermoderte Geruch …“, bemerkte Vera.
„Ja, aber sieh mal: Eigentlich ist es doch recht aufgeräumt und gar nicht mal so schmutzig für fast 70 … Was war das?“ Natalie zuckte zusammen und blieb stehen.
„Was war was?“ Vera leuchtete den Gang ringsherum ab.
„Na das Geräusch … Da! Da war’s schon wieder!“
„Jetzt hab ich’s auch gehört. Das war so ein leichtes Poltern.“
„Ja genau. Ich glaube es kam aus dem 1. Stock, direkt über uns.“ Natalie ging unweigerlich ein paar Schritte rückwärts.
„Jetzt ziehen wir’s durch, Natalie. Wir gehen da rauf und filmen was immer da rumspukt. Mach schon mal die Kamera klar.“ Vera ging voller Tatendrang voran. „Sieh mal: Da vorn ist eine Treppe.“
Natalie folge ihrer Freundin zögerlich, den Gang entlang bis zur Treppe und hinauf in den 1.Stock. Langsam nahm sie Stufe für Stufe, wobei ihr Puls bei jedem Schritt merklich anstieg und ihre Atmung schneller wurde, bis der obere Treppenabsatz im schummerigen Lichtkegel der Taschenlampe auftauchte.
Vera war bereits oben angekommen und leuchtete einmal ringsherum. Doch plötzlich schrie sie auf und ließ ihre Lampe fallen.
„Was ist, Vera, was hast du gesehen?“, rief Natalie, während sie fast ihr Gleichgewicht auf den letzten Treppenstufen verlor.
„Da ist jemand. Ich kann ihn im Gegenlicht des Fensters sehen. Sieht aus wie ein Mann und er kommt direkt auf uns zu.“
Natalie wollte losrennen, aber Veras Standhaftigkeit ließ sie einfach nur verharren.
„Gib mir mal die Kamera, schnell!“
Natalie tat wie ihr aufgetragen. Vera drückte den Aufnahmeknopf und hielt die Linse direkt auf die sich langsam nähernde Kreatur.
„Guten Tag, meine Damen, was kann ich für Sie tun?“, sagte eine freundliche Männerstimme und aus dem Schatten des Gegenlichts trat ein junger Mann mit kurzem, dunklen Haar und bekleidet mit einem Arztkittel hervor. Er lächelte freundlich und sah abwechselnd Vera und Natalie an.
„Sind Sie auch hier, um den Geist zu finden?“, tastete sich Natalie vor.
„Geist? Das hier ist eine Klinik und ich bin der diensthabende Arzt“, sagte der Mann, „bitte entschuldigen Sie die Umstände. Leider ist das Personal irgendwie verschwunden und auch der Strom ist ausgefallen. Kerzen habe ich leider auch nicht mehr. Aber wo Sie beide jetzt schon mal hier sind, lassen Sie mich erst einmal eine Eingangsuntersuchung durchführen. Warum kommen Sie nicht mit in den Behandlungsraum?!“ Der Mann drehte sich um und ging voran in die Richtung, aus der er gekommen war.
„HALT. Warten Sie mal!“, rief Vera.
Der Mann blieb stehen und drehte sich um.
„Sie sind der diensthabende Arzt? Wen haben Sie zuletzt behandelt?“
„Einen Junge mit einem Beinbruch, glaube ich. Es ist schon eine Weile her.“
„Und seit wann ist kein Personal mehr da?“
„Gute Frage.“ Der Mann sah nach oben und schien nachzugrübeln. „Also ich habe dem Elektriker geholfen, einen Stromverteiler zu reparieren, weil es so dringend war. Und irgendwann bin ich in der pathologischen Abteilung aufgewacht und niemand war mehr da.“
Natalie nahm vorsichtig die letzten Stufen nach oben. „Was ist das Letzte, das sie in den Nachrichten gesehen oder gelesen haben?“
„Was soll die Fragestunde? Ich muss nicht untersucht werden. Mir fehlt nichts.“ Der Mann zögerte kurz, bevor er dann doch antwortete: „Deutschland Fußballweltmeister in Bern.“
„Wissen Sie …“ Vera suchte kurz nach den richtigen Worten. „wir sind hier auf der Suche nach einem vermeintlichen Geist und ich denke, wir haben ihn gefunden.“
Der Mann sah sich suchend um, sah dann aber mit großen Augen in Veras Gesicht. „Ich? Ich soll ein Geist … Nein! Ich bin der dienst … Aber es war … bestimmt 60 oder 70 Jahre … OH GOTT, ICH BIN EIN GEIST!“ Die Beine des Mannes wurden weich, sodass er sich auf den Boden setzen musste. „Wie konnte das nur … Was mache ich denn jetzt?“
„Ich weiß nicht“, sagte Natalie, „was tun Geister denn so?“
„Keine Ahnung. Ich habe versucht die Klinik halbwegs sauber zu halten und so in Schuss, dass auch mal ein Notfall reinkommen kann. Welches Jahr haben wir überhaupt?“
„2024. Aber Notfälle wird es hier wohl nicht mehr geben. Sagen Sie: Wie heißen Sie eigentlich?“
„Ich bin Doktor Müller, aber Sie können ruhig Ullrich zu mir sagen.“
„Das ist Vera und ich bin Natalie. Freut uns, Sie kennenzulernen.“
„Ganz meinerseits.“, stammelte Ullrich mit starrem, auf den Boden gerichteten Blick.
„Hier gibt es für dich als Arzt wohl nichts mehr zu tun“, sagte Vera, feixte dann aber weiter: „du könntest Geistheiler werden!“
„Oder Geistlicher!“, stimmte Natalie ein.
„So lustig finde ich das gar nicht. Wieso habe ich eigentlich nicht gemerkt, dass ich seit 70 Jahren nicht auf der Toilette war? Klar: Ich habe seit 70 weder gegessen noch getrunken.“
„Da fällt mir was ein, Ullrich“, sagte Natalie, „Vielleicht existiert dein Bankkonto noch und du hast 70 Jahre lang Zinsen kassiert. Du kaufst das Gelände, sucht Investoren und eröffnest das Krankenhaus neu. Eine Klinik für Körper und Geist, sozusagen.“
„Mein Konto war fast immer leer. Außerdem darf man als Geist kein Geschäft führen.“ Ullrich sah nach oben. „Oder etwa doch?“
„Ich glaube nicht“, sagte Vera und reichte Ullrich die Hand, der sich von ihr wieder auf die Beine ziehen ließ. „Auch wenn die Situation blöd ist: Mit ein wenig Geistesstärke, geht’s bald wieder voran.“
„Hm.“ Ullrich dachte kurz nach. „Stimmt. Ich gehe erst mal runter in die Stadt und schaue, was von mir noch auffindbar ist. Dann besorge ich mir irgendwie eine neue Identität und bewerbe ich mich an einer anderen Klinik oder in irgendeinem anderen Job.“
„In der Geisterbahn?“, fragte Natalie, um gleich darauf in schallendes Gelächter auszubrechen.
Vera stieß ihr den Ellenbogen in die Seite. „Natalie, lass das. Siehst du nicht, wie entgeistert er dich anschaut?“
„Ist schon gut, Vera. Man sollte alles mit Humor nehmen. Aber jetzt begleite ich euch erst mal nach draußen. Es wird bald dunkel und ihr solltet dann nicht mehr im Wald herumlaufen.“
„Wieso?“, fragte Vera, „gibt’s hier Geister?“